Karate-Technik Gyaku Zuki

Karate Kime –  das Geheimnis der „Superkraft“ im Karate!

Schwer zu erklären und oft mystisch verklärt – das Karate Kime!

Hier ein Versuch, etwas Licht in die Sache dieser speziellen Kraft zu bringen, welche durch die optimale Balance zwischen Körperspannung, Timing und Fokus auf die Trefferregion erzielt wird!

Kime – Wortbedeutung

Kime kommt vom Verb kimeru, mit der Bedeutung festlegen oder entscheiden. Im Falle von Karate kann man es als festlegen oder fixieren einer Technik interpretieren. Es geht dabei um das optimale Ende der Durchführung, was auf alle Techniken angewendet werden kann: Änderungen des Standes, beim Blocken oder eben wie üblich bei einem Fauststoß. Mit anderen Worten: der Stand, Block oder Punch wird zum rechten Zeitpunkt mit der notwendigen Geschwindigkeit und am richtigen Platz zu einer möglichst perfekten Endposition geführt.

Allerdings, wenn ein Trainer meint, der oizuki solle stärker und mit ganzem Körpereinsatz durchgeführt werden, wäre eigentlich ein anderer japanischer Begriff anstatt kime treffender: Zentai ryoku – mit vollem Körpereinsatz!

Üblicherweise hat sich aber im Karate-Sprachgebrauch durchgesetzt, bei starken und fokussierten Techniken immer den Begriff „kime“ zu verwenden.

Entspannung als erster Schlüssel zum Erfolg

Grundsätzlich ist für alle Kampfsportarten eine lockere Körperhaltung notwendig, um flexibel und schnell auf Aktionen des Gegner reagieren zu können. Vor allem Anfänger sind meist zu angespannt, weil Spannung das Gefühl von Sicherheit und Kraft vermittelt. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: mit Spannung wird Kraft vergeudet und ausserdem die Reaktionsfähigkeit verlangsamt.

In den ersten Karate-Jahren lernt man, die Muskulatur vom Alltagseinsatz auf Kampftechnik umzustellen. Wenn man z.B. beim Heben oder Drücken Bizeps oder Trizeps einsetzt, sind die beteiligten Muskeln vom Beginn der Tätigkeit gespannt, der jeweilige Gegenspieler (Antagonist) ist entspannt: Also wenn der Trizeps (Agonist) eine Last hochdrückt, entspannt automatisch der Bizeps (Antagonist).

Nun, bei der Generierung von optimalem Kime sind alle Muskeln zu Beginn der Technik locker (aber nicht komplett entspannt – zum Start der Technik ist eine gewisse, lockere Grundspannung notwendig). Aber im Moment des Auftreffens werden so viele Muskeln wie möglich (also sowohl Agonist und auch Antagonist) angespannt, um durch diesen Wechsel von Entspannung zu Spannung eine Schockwelle zu erzeugen und die Fokussierung der Energie auf einen Impulsmoment zu erzielen. Je größer der Unterschied zwischen Entspannung und Spannung, desto größer auch der Impuls.

Ebenfalls wichtig ist, die Spannung gleichmäßig im Körper zu verteilen. Falls ein Körperteil zu schwach gespannt ist (z.B. Schulter, Ellbogen oder hinteres Bein..), verpufft an dieser Schwachstelle ein Teil der Energie.

Kime – Schockwelle oder kinetische Energie im Trefferobjekt

Der Endimpuls einer Technik wird weder AN der Trefferfläche noch DURCH das Trefferobjekt zur Wirkung gebracht, sondern IM Trefferobjekt. Im Training ohne Schutzhandschuhe wird zwar wegen der Verletzungsgefahr an der Trefferfläche gestoppt (jap. „sundome“), aber in der Vorstellung sollte die Energie in den Körper hineingeleitet werden.

Bei ernsthafter Anwendung wird dann der Trefferfokus 2-3cm dahinter angelegt und dort das Kime entfaltet. Man trifft dabei nicht mit der Intention, durch das Hindernis hindurchzuschlagen –  die Energie würde sich auf zu langem Weg verteilen und daher kein Kime-Effekt erzielt werden.

Im Gegensatz dazu muss der Schlag eines Boxers sehr wohl einen weiteren Weg durchführen, weil bis zur Trefferwirkung die Knautschzone des Handschuhs überwunden werden muss. Daher wird das Training eines Boxer immer anders aussehen, als das eines Karateka und ebenfalls ein Training für Sport-Kumite anders als für traditionelles Karate!

Übrigens ist die Erzielung einer Kime-Wirkung mit einem Handschuh kaum oder gar nicht möglich – da ein komplettes, schnelles Schließen der Faust nicht möglich ist, kann zu wenig Muskelspannung in Faust und Unterarm aufgebaut werden. Das heißt nicht, dass eine Handschuh-Technik nicht ebenfalls sehr stark sein kann; nur eben nicht mit „echtem“ Kime.

Ein anderes Beispiel, welches fälschlicherweise mit Kime in Verbindung gebracht wird, ist der Bruchtest. Hierbei geht es um das ungestoppte Überwinden eines harten Widerstandes, z.B. Brett oder Knochen, weshalb ein Abstoppen mit Kime kontraproduktiv wäre. Diese Art der Trefferwirkung ist auf den menschlichen Körper angewendet nicht so effektiv wie Kime: Körpergewebe ist elastisch, d.h. ein Schlag der ein Holzbrett durchschlägt kann am menschlichen Körper verpuffen, weil er „aufgesogen“ wird. Der Effekt ist vergleichbar mit einem Projektil: eine Kugel druchdringt ohne weiteres 10-20cm dicke Holzbalken, wird aber von 1cm Kevlar (Gewebe von kugelsicheren Westen) aufgehalten.

In dem Sinne der Energieübertragung durch Kime wird die Trefferfaust optimal (ohne Spannung) beschleunigt, um dann die aufgebaute Bewegungsenergie durch gezielt getimte Spannung im Ziel (ca. 2-3cm) hinter der Körperoberfläche zu entladen. Dabei stoppt man zwar die Bewegung, aber mit dem Gefühl, dass die Faust sich mit dem Stoppimpuls immer noch vorwärts bewegt, also nicht durch das Abstoppen zurückprallt. Es benötigt viele Jahre intensiven Trainings um den Unterschied zwischen zurückprallendem und fortschreitendem Impuls herauszuarbeiten.

Kime – Mystik oder Physik

Die moderne Sportmedizin bzw. Trainingslehre kennt das Prinzip der „Intramuskulären Koordination“ (IK). Damit ist die Zusammenarbeit aller Muskelstränge innerhalb eines Muskels gemeint. Daneben gibt es auch noch die „Intermuskuläre Koordination“, also das Zusammenspiel unterschiedlicher Muskelgruppen.

Das Faszinierende nun an der „IK“ ist die Kraftzunahme OHNE Muskelzuwachs. Dieses Phänomen erklärt endlich plausibel, weshalb wir alte Meister mit dünnen Ärmchen kennen, die mit Leichtigkeit jeden Muskelprotz aushebeln können oder mit einem locker aussehenden gyaku-zuki nach Luft japsen lassen.

Erreicht wird dieser Effekt durch folgende Optimierungen im Muskel als Trainingsergebnis:

  • Frequenzierung – die Ansteuerung der beteiligten Muskeln erfolgt mit höherer Frequenz.
  • Synchronisierung – trainierte Muskeln schalten sich bei Krafteinsatz für gleichzeitigen Einsatz zusammen.
  • Rekrutierung – mehr Muskeln beteiligen sich an der Tätigkeit, ein Teil von untrainierter Muskulatur bleibt oft untätig.

Damit wäre also alles geklärt! Aber rein physikalische Erklärung hinterlässt einen schalen Nachgeschmack, da wir Karateka die Geschichten aus unseren Anfängerjahren über fast mystische Leistungen von alten Karatemeistern schätzen und lieben gelernt haben.

Zur Ehrenrettung von Mystik und Spiritualität: wenn es nur um gezieltes Muskel- und Techniktraining ginge, könnte jeder Sportler mit etwas Bewegungsgefühl ein herausragender Karatemeister mit großartigem Kime werden; welche tatsächlich aber rar gesät sind!

Das Geheimnis liegt in der intensiven geistigen Auseinandersetzung mit den Abläufen sowohl im eigenen Körper, als auch ausserhalb (betreffend Gegner, Umgebung etc.) und der bewussten, aber auch intuitiv-unbewussten Reflexion zu jeder Technik. Dadurch wird nach jahrzehntelangem Training in Verbindung mit entsprechender Meditation die viel beschworene Einheit von Körper und Geist erreicht. Somit vereinigen sich alle Sinne, Geist, Atmung, Gelenke und Muskeln in einer mühelos erscheinenden Aktion zum rechten Zeitpunkt in einem gewaltigen Kime.

Weil man meinen könnte, dass diese besondere Kraft aus der Lebensenergie, also dem Chi oder Ki, geschöpft wird, nimmt man oft fälschlicherweise die Silbe „Ki“ als Wortursprung für Kime an.

Aber vielleicht liegt man damit aber auch gar nicht so falsch, denn langjähriges, intensives Training kann durchaus den Charakter von Spiritualität und universeller Energie annehmen 😊.

Möge das Chi mit Dir sein! 👊