Karate Flow Teil 2 – Karate Techniken als Bewegungs-Fluss

Wie Körper und Geist zur fließenden Einheit im Sinne von Karate Flow verschmelzen

Eine gute Technik besteht aus perfektem Anfang und Ende… und dem richtigen Dazwischen!

Nicht nur der Trainingsverlauf über die Jahre hinweg ist als fließender Prozess zu verstehen, sondern vor allem auch die Technik selbst sollte sich zu einem Bewegungs-Fluss entwickeln.

Als Anfänger lernt man, Techniken abteilig durchzuführen – wieder am Beispiel oi-zuki wie schon in Karate Flow Teil 1. erwähnt: Zuerst Abdruck mit dem hinteren Bein bis beide Beine auf gleicher Höhe sind, dann Abdruck mit dem anderem Bein und Strecken des gleichseitigen Armes mit dem Faustschlag. Während der ersten Jahre wird der Ablauf ruckartig und steif aussehen – das liegt daran, dass Einzelbewegungen ausgeführt werden und noch keine Harmonisierung aller beteiligten Körperteile stattgefunden hat.

Anstatt zu versuchen, den oi-zuki immer schneller auszuführen, liegt die wahre Herausforderung in der Verlangsamung. In langsamster Zeitlupe sollen alle Körperteile gleichmäßig und kontrolliert vorwärtsbewegt werden: Knie, Hüfte, Oberkörper, Schulter, Ellbogen, Faust etc., und zwar ohne die Übergänge zwischen einzelnen Abschnitten zu bemerken.

Der schwierigste Übergang überhaupt ist derjenige vom Ruhezustand in die Bewegung. In Karate Flow Teil 1. wurde hierzu beschrieben, dass statt eines ruckartigen Abdruckes auch ein ansatzloses Ziehen durch die innere Muskulatur möglich ist.

Im langsamen Üben sollte nun die lockere Anfangsspannung vom ansatzlosen Start weg über den kompletten Bewegungsablauf entlang kontinuierlich und ohne Starrheit mitgenommen und erst zum Schluss zur absoluten Muskelspannung gesteigert werden. Schnelle Bewegungen verschleiern viele Fehler oder Ungenauigkeiten, auch weil bei schneller Ausführung das optimale Zusammenspiel der verschiedenen Muskeln und Gliedmaßen nicht so bewusst wahrgenommen wird wie bei langsam fließenden Bewegungen. Hierin zeigt sich dann die wahre Meisterschaft, wenn die Technik von Anfang bis Ende mit gleicher Geschwindigkeit, ohne Anspannung und Ruckeln zu einem kontrollierten Ende geführt wird.

Die meisterliche Kata lebt durch den Karate Flow

Nach der Harmonisierung einer Technik erfolgt die geschmeidige Aneinanderreihung zusammengehörender Abläufe mit Abwehr und Gegenangriff. Zum Beispiel der Beginn von Heian Shodan mit gedan-barai und oi-zuki wird nicht als zwei Techniken verstanden, sondern als eine. Das heißt der oi-zuki muss nahtlos an den gedan-barai ansetzen, um dem imaginären Gegner keine Zeit zum Reagieren zu lassen. Insbesondere bei Interpretation von Kata als Verteidigung gegen mehrere Gegner ist es essenziell, den ersten Angreifer so schnell als möglich zu neutralisieren. Und gleich daran anschließend wird ein fließender Richtungswechsel zum nächsten Widersacher durchgeführt.

Um das „Fließen“ einer Kata zu erlernen, ist es gar nicht notwendig, höhere Kata wie Nijushiho zu üben – eine sehr schöne Kata übrigens, mit elegantem Rhythmuswechsel von langsam zu schnell und umgekehrt. Solche Schwarzgurt Kata sind fortgeschrittene Beispiele für das Erlernen von Timing, Distanz und Spannungswechsel. Nach längerem Üben ist es möglich, auch einen schnellen Angriff, zum Beispiel mit gyaku-zuki, durch einen langsamen, aber richtig getimten osae-uke (die erste Technik in Nijushiho), abzuwehren – elegante bunkai Anwendung von Karate Flow.

Im Kampf ist es wichtig, einfache Techniken schnell und effektiv ausführen zu können. Wenn die Techniken soweit gefestigt sind, lernt man in weiterer Folge in den Angriff hineinzugehen, um diesen dadurch zu brechen. Gleichzeitig bringt man durch diese Bewegung Distanz zwischen sich und einen weiteren Gegner.

Einem einzelnen Angreifer soll man mit Ruhe gegenübertreten, den Gegner studieren und abwarten – vielleicht ist die eigene Kampfhaltung so überzeugend und unüberwindbar, dass er es sich anders überlegt und den Rückzug antritt.

Aber gegen mehrere Angreifer muss man immer in Bewegung bleiben, in einen Angreifer hinein und dadurch von einem anderen weg und so weiter, Körper und Geist bleiben im Karate Flow bis der Kampf beendet ist.

Daher laufen die Kata Schrittdiagramme auch in alle Richtungen, um Orientierung und Bewegung im Raum zu üben.

Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte kann eine gute „Heian Shodan“ auch für einen Schwarzgurt zur Herausforderung werden! Die übergangslose Bewegung wird dann nicht mehr nur innerhalb einer Technik ausgeführt, sondern alle Techniken verschmelzen zu einer einheitlichen Form. Abwehr und Gegenangriff sind dann nicht zwei getrennte Techniken, sondern eine Einheit. Auf diese Art kann der Meister auch die einfachste Kata mit Leben und Geist erfüllen!

Mushin – Der Geist des Kriegers fließt ins Leere und Es kämpft!

Athleten trainieren hauptsächlich, um Techniken kraftvoller und schneller auszuführen; Kampfkünstler dagegen sind darauf bedacht, wie beschrieben eine harmonische Ganzkörperbewegung zu entwickeln. Der Vorteil von harmonisch ausgeführten Techniken im Karate Flow ist der geringere Krafteinsatz und der ansatzlose Übergang zwischen unterschiedlichen Sequenzen bzw. überhaupt der Start einer Bewegung. Damit wird es für einen Gegner viel schwieriger, die Art der Technik zu erkennen und darauf reagieren zu können.

Aber der wichtigere Aspekt harmonischer Bewegungen liegt in der positiven gesundheitlichen Wirkung: Gelenke und Sehnen werden geschont, das Körperbewusstsein gesteigert und die Atmung wird gleichmäßiger und tiefer, was den ganzen Organismus besser mit Sauerstoff versorgt.

Viele Karateka beenden ihr eigenes Training mit dem Ende der sportlichen Karriere, weil sie bis dahin „nur“ dynamisches Karate, ohne harmonischen Karate Flow, gelernt haben. In fortgeschrittenem Alter, verbunden mit Muskelabbau, ist die sprunghafte, schnelle Form des Sportkarate nicht mehr praktizierbar.

Der sehr geschätzte Meister Takeji Ogawa hat dazu einmal gesagt: „Junge Karateka kämpfen wie wilde Hengste; soo stark, viel Lärm, viel Energie! Aber nicht sehr viele Jahre möglich, so zu kämpfen…später anders, später Karate-do!“ Ogawa sensei hält mit 80 Jahren noch immer einmal pro Woche ein Training im Verein ASKÖ Karate Steyr , wobei er fleißig mittrainiert und mit unglaublichem Charisma und Vitalität begeistert.

Bei entsprechender Adaptierung der Technik an die sich ändernden körperlichen Voraussetzungen mit Fokus auf fließende Abläufe, kann sich daher ein gereifter alter Meister immer noch sehr gut gegen die wilden Jungen behaupten! Dabei hilft auch die Automatisierung aller Abläufe, aufgrund derer der Meister intuitiv die richtigen Techniken zur rechten Zeit abrufen kann: „Es“ (= das Unbewusstsein) kämpft!

Parallel zur fließenden Technik entwickelt sich nämlich bei entsprechender Übung auch der fließende oder leere Geist (mushin), damit ist ein Zustand des Denkens gemeint, der an nichts anhaftet und somit flexibel und entspannt ist.

Takuan Soho (jap. Zen Meister 16.Jhdt, Lehrer bedeutender Schwertmeister wie Miyamoto Musashi):

Der Geist muss immer im Fluss sein, denn wenn er stoppt, wird dieser Fluss unterbrochen, und diese Unterbrechung ist schlecht für das Wohlergehen des Geistes. Für einen Schwertkämpfer bedeutet dies den Tod. Wenn ein Schwertkämpfer seinem Gegner gegenübersteht, darf er nicht an den Gegner denken, nicht an sich selbst, und nicht an die Bewegungen des gegnerischen Schwertes.“

Auf Karate umgelegt, trifft diese Aussage sowohl auf die Anwendung in Kata als auch Kumite zu. Solange man in der Kata bewusst eine Technik nach der anderen macht, ist der Ablauf nicht rund und harmonisch – eine meisterliche Kata entsteht aus dem „nicht-daran-denken“, sondern einfach laufen lassen. Daher sprechen viele Meister bei Kata auch von „moving Zen“.

Durch das „Festmachen“ des Geistes an irgendeinen Aspekt verhindert man den Blick auf das Ganze. Wenn man im Wettkampf z.B. dauernd an einen Stellungswechsel des Gegners denkt, oder immer nur seine Deckung beachtet, wird man dadurch leicht abgelenkt oder ist anfällig für Finten. Genauso, wenn man statt auf den Gegner nur auf sich oder an die nächstmögliche Technik achtet. Der erfahrene Kämpfer ruht in sich, leert seinen Geist und überlässt der Intuition das Ruder. Dabei holt sich die Intuition aus dem Unterbewusstsein die in langen Trainingsjahren erworbenen automatisierten Abläufe.

Geist und Körper werden somit Eins, miteinander verwoben, aber nie starr, sondern stets im Fluss.

„Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich´s nicht zum Starren waffne,
wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht`s Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.“ (Goethe)