Karate Flow: „Panta rhei“ – Alles fließt!

Nach Heraklit unterliegen wir selbst und alle Existenz einem ewigen Wandel: „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“

Abendländische Philosophie wie die „Flusslehre“ von Heraklit und fernöstliche Weisheiten aus dem Taoismus sind sich viel näher, als kulturelle Unterschiede glauben lassen! Wasser und die damit verbundenen Eigenschaften sind elementare Bestandteile unseres Lebens und philosophische Grundlage vieler Kulturen. Und wie wir nach dem richtigen Flow im Leben streben, so können wir auch nach dem „richtigen“ Karate Flow streben!

Der Fluss als Metapher für eine Karate-Abhandlung in 4 Teilen, über

Teil 1.: Karate Training als Prozess der Veränderung: Wie wir uns durch flexible Trainingsmethoden langfristig verbessern

Teil 2.: Karate Technik als Bewegungs-Fluss: Wie Körper und Geist zur fließenden Einheit verschmelzen

Teil 3.: Der Weg zum Karate Flow – keep calm and grow: Wie der langsam fließende Entwicklungsprozess den Karateka innerlich und äußerlich formt

Teil 4.: Karate – Ursprung und Weiterentwicklung: Wie im Fluss des Zeitenstromes der Kampf sich zur Kunst wandelte

Teil 1.: Karatetraining als Prozess der Veränderung

„Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht!“ (Heraklit)

Damit meint Heraklit, dass mit jedem neuen Hineinsteigen in denselben Fluss die Bedingungen doch jedes Mal anders sind, z.B. in Bezug auf Strömung, Temperatur und Geschwindigkeit des Wassers, aber auch betreffend der äußeren Umstände wie Sonnenlicht, Wind etc.

Und auch wir selbst ändern uns mit jedem Hineinsteigen, insbesondere der Gedankenfluss kann nie genau der Gleiche sein.

Genauso sollten wir beim Üben einer Technik nicht statisch handeln und immer die gleiche Technikausführung anwenden, sondern wir sollten in den Körper hineinhorchen und durch den Wechsel von Körperspannung, Einsatz unterschiedlicher Muskeln oder durch geringfügige Stellungsänderungen an der Perfektionierung der Technik arbeiten. Das Motto ist Verbesserung durch Veränderung!

Dabei gilt, dass es nicht nur eine optimale Ausführung gibt, sondern die Perfektion in der optimalen, automatisch erfolgenden Auswahl aus der Vielfalt der Möglichkeiten des menschlichen Körpers liegt.

Karate-Stellungen: Tief oder hoch / lang oder kurz?

Am Beispiel des oi-zuki kann man den Wechsel von tiefem, langem Stand und hohem, kurzen Stand üben – die unterschiedlichen Standlängen erfordern jeweils eine andere Spannung im Oberschenkelmuskel (wobei jeweils auch innere und äußere Muskulatur unterschiedlich beansprucht wird) und andere Stellungen von Knie und Hüfte. Genauso ändern sich auch Geschwindigkeit und Reichweite im Partnertraining abhängig von der Standlänge.

Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass der höhere Stand flexibler und lockerer ist, verglichen mit stärkerer, aber auch starrer Position bei tieferem Stand.

Der sehr tiefe Stand im traditionellen Karate ist eher als Trainingsherausforderung und zur Stärkung bestimmter Muskelpartien anzusehen, anstatt als praktische Kampfübung. Wenn es zum Partnertraining kommt, nehmen auch „Traditionalisten“ einen eher höheren Stand zwecks besserer Beweglichkeit ein.

Karate Fortbewegung: Von hinten abdrücken oder nach vorne ziehen?

Noch wichtiger als an der persönlich „richtigen“ Stellung zu arbeiten ist es, verschiedene Bewegungsmuster auszuprobieren. Beim oi-zuki ist vor allem der Start wegen der Überwindung der physischen Trägheit wichtig. Dazu wurde klassisch das Abdrücken mit dem hinteren Bein gelehrt, was aber der Technik nicht unbedingt die optimale Impulsrichtung gibt (das Strecken des Beines ergibt eine schräg nach vorne oben gehende Linie, außerdem geht ein Teil der Energie in den Boden und der Gegner könnte durch das Abdrücken eine einleitende Bewegung erkennen).

Eine andere Methode wäre z.B. das Entlasten des vorderen Beines mit Absenken des Knies, wodurch die Schwerkraft als Anfangsimpuls genutzt wird. Man taucht sozusagen kurz mit dem Körper wie in einer Welle hinunter, um sich danach mit dem anderen Bein nach vorn zu katapultieren.

Die von mir präferierte Version wäre ein Nach-vorne-Ziehen der hinteren Körperhälfte am vorderen Oberschenkel, und zwar durch das Zusammenziehen der Adduktoren von vorderem und hinterem Bein. Dabei kann man sich das vordere Bein als Säule vorstellen, an dem ein elastisches Band nach hinten gespannt ist – dieses Band stellt die innere Muskulatur dar, die mit einem dynamischen Ruck den Körper nach vorne schleudert.

Karate Flow: Schnell vs. Langsam

Natürlich ist eines der wichtigsten Kriterien im Kampfsport, eine Technik schnell ins Ziel zu bringen. Insbesondere gilt das im Shotokan Karate, wo man üblicherweise aus größeren Distanzen angreift als zum Beispiel im Boxen.

Die Schnelligkeit sollte aber nie zu Lasten der Effektivität im Ziel bevorzugt werden. Ein Treffer, der keine Wirkung zeigt, ist vergeudete Energie und Einladung zum Gegenangriff.

Daher ist es wichtig, Techniken auch ganz langsam zu üben, weil damit die offensichtlichen Fehler augenscheinlich werden. Außerdem lernt man durch die langsame Ausführung das Zusammenspiel aller beteiligten Muskelgruppen besser kennen und die Gesamtkoordination verbessert sich deutlich.

Wieder am Beispiel oi-zuki kann man in der Langsamkeit auch das Vermeiden von ruckartigen Übergängen trainieren – vom ansatzlosen Start über den Mittelteil, wo das zunächst vordere Bein nun den Vorwärtsimpuls übernimmt, bis zum Impact, bei dem alle Körperteile gleichzeitig und gleichmäßig zur Endposition gebracht werden. So wird eine Technik harmonisch zusammengefügt zu einem perfekten Karate Flow.

Oi-zuki Training gehört für mich zum absoluten Basisbestandteil jeden Trainings, wobei ich unabhängig von Vorlieben alle möglichen Stellungen und Bewegungsmuster ausprobiere, um so den bestmöglichen Karate Flow herauszufinden.

Jeder Fluss gräbt sich sein eigenes Bett

Unser Entwicklung im Leben oder im Training ist kein Prozess, den wir ausschließlich anderen überlassen sollten! Anleitungen, Hinweise und Korrekturen von Lehrern sind wichtig, aber die eigentliche Arbeit liegt an einem selbst – das Wie, also wie oft, wie intensiv, wie ernsthaft oder wie bewusst liegt immer am eigenen Willen und Wollen!

Probieren, Analysieren, Reflexieren, Korrigieren – und immer wieder erneut von vorne!

Für einen gesamtheitlich ausgebildeten Karateka ist es wichtig, die große Vielzahl der in den Kata vorkommenden Techniken zu trainieren, um den Geist ständig herauszufordern und sich ein großes Repertoire zu erarbeiten.

Aber im Ernstfall sollte die am besten funktionierende und stets abrufbare (Lieblings-)Technik, im Karate Tokui-waza genannt, eingesetzt werden!

„Ich fürchte nicht den Mann, der 10.000 Kicks einmal geübt hat, aber ich fürchte mich vor dem, der einen Kick 10.000-mal geübt hat.“ (Bruce Lee)

Fortsetzung mit Teil 2 folgt demnächst…